HELDEN DES ALLTAGS

IVARS WEIDE IST EIN INTERNATIONALER GOLF-AMATEURSTAR

u.a. Europameister und Vize-Weltmeister

Redaktion: Ingo Kabutz

Ivars Weide hat Handicap 19. Das ist für einen Hobbygolfer nicht schlecht. Doch der 67-Jährige aus Unna hat noch ein weiteres Handicap: Er ist blind. Weide sieht den kleinen Ball nicht, vor den er schlägt. Aber er trifft ihn trotzdem – und das so manches Mal besser als seine sehenden Mitspieler, die dem Mann aus Unna dafür höchsten Respekt zollen. Zumal dieser bereits mehrfacher Europameister ist und 2001 von den Sportjournalisten zum „Golfer des Jahres“ gewählt wurde. Bei der Sportgala überreichte ihm damals Franz Beckenbauer den Ehrenpreis für seine Verdienste um den Sport.

Ivars, wir kennen uns schon länger und mein letzter Stand war, dass Du noch Stecknadel-groß etwas sehen konntest – aber selbst das ist vorbei, oder? 
Ja, das ist restlos vorbei. Mein Sehvermögen ist gleich Null, ich kann nichts mehr sehen oder wahrnehmen. Das Einzige, was ich noch mitbekomme ist, ob es draußen Nacht oder Tag ist, weil das Auge die Helligkeit wahrnimmt. 
 

Hast Du denn mit vollständigem Sehvermögen angefangen zu Golfen? 
Als ich angefangen habe, konnte man schon sagen, dass ich so gut wie nichts mehr gesehen habe. Ich habe nie einen Ball fliegen sehen. Ich habe dort wirklich nur punktuell etwas wahrnehmen und sagen können: „ok, das ist etwas Weißes, das muss der Ball sein“. So habe ich angefangen Golf zu spielen. 
 

Das heißt, Du hast Golf als Nicht- Sehender gelernt? 
Ich habe Golf gelernt als Nicht-Sehender, natürlich mit dem Wissen, wie man Golf spielt und wie vielleicht so ein Schwung aussehen soll oder könnte. Das sind die Vorstellungen, die ich von irgendwelchen Fernsehbildern oder Illustrationen mitgenommen habe. 

Es gibt viele Nicht-Sehende, die Sport treiben, aber Golf ist natürlich schon speziell – ich als jemand, der auch Golf spielt, kann sich überhaupt nicht vor-stellen, dass man den Ball trifft und darüber hinaus auch gezielt auf Score spielen kann. Kannst Du mir beschreiben, wie Du Dich sensitiv und mit Deinen Wahrnehmungen darauf eingestellt hast? 
Also meine Zielsetzung war, dass ich sportlich wieder etwas machen und am normalen gesellschaftlichen Leben teilnehmen wollte. Gaby und ich haben überlegt, was wir gemeinsam und auch mit anderen machen können. Mein damaliger Tennistrainer meinte dann zu mir: „Ivars, probier es doch mal mit dem Golfen“. Tennis spielen ging leider gar nicht mehr. So fing das an, er hat uns die Möglichkeit eingeräumt auf dem Golfplatz Gut Neuenhof ein paar Bälle zu schlagen und der Vorteil war, dass der Ball beim Golfen ja grundsätzlich ruht. Ich muss also nicht reagieren, sonder agieren. Und da ich vom Eishockey komme, dachte ich: na, das müsste doch eigentlich funktionieren. 
 

Du hast hoch Eishockey gespielt, oder? 
Ich habe sechs Jahre Bundesliga gespielt. Dann hatte ich einen schweren Sportunfall und habe mir die Wirbelsäule gebrochen, hatte teilweise beide Beine gelähmt. Ich bin froh, dass ich nicht im Rollstuhl geblieben bin. Ich lag drei Monate im Krankenhaus und die Ärzte wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, ob ich jemals wieder laufen können würde. Aber ich habe gekämpft und mir einfach nur gedacht: du gehst hier gehend wieder raus – das war mein Ziel. Danach bin ich Sportinvalide geworden und dann war meine Eishockeykarriere natürlich vorbei. 
 

Damals konntest Du aber noch sehen, warst nicht krank, oder? Ist es eine Krankheit? 
Grundsätzlich ist meine Krankheit eine Erbkrankheit, die nach und nach zur Blindheit führt. Diese konnte ich vorher aber nicht richtig wahrnehmen. Das Problem besteht immer darin, dass ich nicht einschätzen kann, was jemand anderes sehen kann, weil man einfach keine eigenen Vergleichsmöglichkeiten hat. Zum Vorschein kam die Krankheit bei einem Meisterschaftsspiel gegen Mannheim, da habe ich einen Schlittschuhtritt ins Gesicht bekommen. Dabei ist die Schlagader durchgetreten und dementsprechend das Auge in Mitleidenschaft gezogen worden. Eine Untersuchung der Augenklinik in Essen hat dann ergeben, dass ich blind werde. Mir wurde gesagt: „Sie haben die Krankheit RP“ – das steht für Retinitis pigmentosa. Darüber hat mich der Arzt mal eben so ganz knallhart informiert. Ich war ja eigentlich nur wegen einer Augenuntersuchung da, um festzustellen, ob das Auge etwas abbekommen hat oder nicht. Damals war ich 22 Jahre alt.

Eine solche Nachricht zieht einem 22-jährigen doch den Boden unter den Füßen weg, oder? 
Nein, überhaupt nicht, weil das für mich gar nicht in Frage kam. Ich habe nur gedacht: was redet der denn für ein dummes Zeug? Ich doch nicht! Ich, Ivars Weide!
 

Golfeuropa- und Weltmeister Ivars Weide vom GC Gut Neuenhof beim Intensivtraining mit Neuenhof-Golf-Pro Frank Richter und Ehefrau Gaby.

Wann war dann der erste Einschnitt? 
Der erste Einschnitt kam nach der Rückenverletzung, als ich Sportinvalide wurde. Ich habe dann natürlich überlegt, was ich weiter mache. Dem Eishockey wollte ich treu bleiben und habe dann eine Trainerlizenz gemacht, bis einschließlich erste Bundesliga. Zwei Jahre lang habe ich Duisburg trainiert, die spielten damals in der zweiten Bundesliga. Irgendwann musste ich mich aber ja untersuchen lassen, ich wollte wissen, ob die Krankheit weiterschreitet oder nicht. Die Augenärzte haben mir dann gesagt, ich müsse helles Licht meiden und mir wurde empfohlen, eine dunkle Brille zu tragen. Für mich stand fest, dass ich mich als Trainer ein bisschen zurückziehen musste und in der Zeitung stand dann dementsprechend „Augenkrankheit – Weide muss sich aus dem Trainergeschäft zurückziehen“. Und dann bekam ich vom Straßenverkehrsamt die Nachricht: „bitte den Führerschein abgeben“. Oder ich sollte überprüfen lassen, ob ich überhaupt noch in der Lage bin, am Verkehr teilzunehmen. 
Da wurde mir das dann zum ersten Mal so richtig bewusst. Das muss so 1976/77 gewesen sein, da war ich 30.  

Gaby, wie hast Du das empfunden, wie hat das bei Dir gewirkt? 
Also wir hatten natürlich die Zeit und die Möglichkeit über das alles nachzudenken und das Leben einzuschätzen. Man kann sich daran gewöhnen und man kann es sich einrichten – als Tennis nicht mehr ging, haben wir es eben mit Golf versucht. Da er gerne Fahrrad fährt, haben wir uns ein Tandem angeschafft. Man kann damit leben, man muss sich nur ändern. Ansonsten geht eigentlich alles weiter. Und was ich heute wirklich noch immer als positiv empfinde ist, dass wir Zeit hatten, uns auf diese neue Situation einzustellen. Es ist schlimmer, wenn ein Unfall passiert und du gerätst von heute auf morgen in eine solche Situation, wirst einfach hineingestoßen. Aber wenn man Zeit hat, kann man damit leben und, man muss es auch.  

Gab es bei Dir jemals Zweifel an dieser Beziehung, Gaby?
Nein, eigentlich nicht. Wir sind sehr jung zusammen gekommen und sind auch gleich mit einem Kind gestartet. Wir hatten dann schnell zwei Töchter und eine intakte Familie. Wie gesagt, es war eine Krankheit, die schleichend kam, mit der man sich arrangieren konnte und auch die Kinder haben das als ganz normal empfunden. Mittlerweile haben wir vier Enkelkinder und es für keinen in der Familie ein Problem. Es gibt natürlich immer Höhen und Tiefen und manchmal fluche ich auch, es war nie nur Sonnenschein, aber da kommt man drüber hinweg

Und dann habt Ihr also angefangen im Gut Neuenhof Golf zu spielen? 
Ja, also man muss dazu sagen, 1993 habe ich aufgehört zu arbeiten und dann haben wir uns erst einmal mit anderen Dingen beschäftigt, an Golf habe ich da gar nicht gedacht. Golf war für mich in dem Sinne auch einfach keine Sportart, weil ich immer die Konfrontation gesucht habe. Sport hieß für mich Schwitzen und Kämpfen.  

Was bedeutet Golf aus heutiger Sicht für Dich? 
Ich weiß heute, dass Golf ein Sport ist – keine Frage. Golf ist ausgesprochen schwierig zu spielen, technisch sehr, sehr kompliziert und meine Hochachtung vor denen, die es perfekt spielen können. Es ist eine Sportart, die man mit allen spielen kann. Es ist aber nicht der Sport, wo ich nach vier Stunden kaputt bin, weil ich mich körperlich so sehr angestrengt habe. 

Wie ist die mentale Anstrengung? 
Für mich immens! Das ist kaum zu beschreiben. Es ist eine enorme psychische Belastung, weil ich mich unheimlich konzentrieren muss. Ich darf mich nicht ablenken lassen, wenn ich den Ball vernünftig treffen möchte. Da ich eine Zeit lang auch leistungsorientiert gespielt habe, war es nachher schon sehr, sehr anstrengend für mich. Wir haben ja Weltmeisterschaften gespielt und wenn du dann zwei oder drei Tage hintereinander spielen musst, dann schlaucht das schon sehr.

 

Golfeuropa- und Weltmeister Ivars Weide vom GC Gut Neuenhof beim Intensivtraining mit Neuenhof-Golf-Pro Frank Richter und Ehefrau Gaby.

Du hast also etwas auf Dich genommen, das Ihr zusammen machen könnt, gleichzeitig aber eine ungeheure mentale und psychische Anstrengung für Dich bedeutet. 
Das haben wir vorher aber gar nicht so gesehen, wir wollten einfach nur ein bisschen Spaß und Freude haben. Viele Freunde haben aufgehört Tennis zu spielen, alle fingen an zu Golfen und erzählten, wie toll das sei. Und wir standen da und haben gedacht: das kann doch wohl nicht wahr sein! Also versuchen wir es mal! Und dass ich dann irgendwann einmal so gut spielen würde, daran haben wir damals gar nicht gedacht. 
 

Gib ruhig mal ein bisschen an – welche Titel hast Du gewonnen? 
Ich weiß es nicht genau… Ich bin zweimal Europameister geworden, mehrmals Deutscher Meister, an drei Weltmeisterschaften haben wir teilgenommen – in Japan, Australien und Kanada – da war ich immer unter den ersten 4. 

 
Welcher Titel hat Dir bisher am meisten bedeutet? 
Das kann ich gar nicht sagen. Das wichtigste für mich war eigentlich, dass ich eine Eingliederung in die normale sportliche Gesellschaft gefunden habe. Ich habe außerdem bei den Britisch Open, den Irisch-, Schottisch- und Schweizer Open gespielt. Alles in der Kategorie ‚blind/sehbehindert‘. Diese Turniere und Weltmeisterschaften sind ausschließlich für Sehbehinderte, an denen maximal 120 Golfer teilnehmen können. In England beispielsweise hat das einen enormen Stellenwert. Die Leute, die an der Weltmeisterschaft teilnehmen, müssen Qualifikationsturniere spielen. In England finden jedes Jahr bis zu 22 Blindenturniere statt. Die werden richtig bezuschusst, haben eine Etat von 300.00 Euro im Jahr. 


Fühlt Ihr Euch denn als Teil eines internationalen Netzwerkes? 
Im Moment mache ich das ja nicht mehr. Aber um mal ein Beispiel zu nennen – in Japan spielt man auf dem besten Golfplatz Japans, zeitgleich hat da damals das Finale des Senior Ladies Weltcup stattgefunden – aber nicht das der Blinden, sondern der Sehenden. Das war eine wahnsinnig tolle Veranstaltung.


Welche Chancen hast Du als blinder Golfspieler gegen einen Sehenden? 
Da hast du keine Chance. Das muss man einfach ganz realistisch sehen. Als ich hier angefangen habe, habe ich Handicap 15 gespielt, da kann man sich ja vorstellen, dass ungefähr 85 Prozent der Mitglieder bei uns im Golfclub schlechter gespielt haben, als ich. Und heute spielen immer noch 60 oder 70 Prozent schlechter als ich – und die können sehen! Das ist die eigentliche Leistung dabei, ich kann mich nicht mit einem vergleichen der Handicap 7 oder 8 hat.


Wie funktioniert Dein Golf zusammen mit Gaby? 
Denn Sie ist ja Teil Deines Spiels, richtig? Vom Grundsatz her ist es so, dass wir eine Aufgabenteilung haben. Ich bin derjenige, der die Kugel zum Schluss treffen und den Schlag ausüben muss und Gaby beschreibt mir auf fremden Plätzen, in welche Richtung es gehen muss. Sie beschreibt mir den Platz, wo ich langspielen soll, welche Entfernungen das sind und dann besprechen wir gemeinsam, welchen Schläger ich nehme. In der Regel bestimme ich schon, mit welchem Schläger ich spielen möchte, aber die Gegebenheiten müssen natürlich stimmen. Gaby trägt einen großen Anteil an dem, was wir auf dem Platz fabrizieren. 


Ohne sie geht es nicht oder? 
Nein, es geht nicht. Es geht auch mit einem Fremden nicht. Also das geht schon, aber man muss sich aufeinander einstimmen. Wenn wir jetzt heute miteinander spielen würden, würde ich sicherlich ein paar Bälle treffen aber Du hast auch kein Gefühl dafür, wie mein Schläger stehen muss und wie weit ich mit welchem Schläger schlage. Du musst einfach meine Spielstärke kennen und vorher schon wissen, was ich kann und was nicht, um überhaupt an eine solche Leistung heranzukommen.


Gaby, Du bist also sozusagen der Caddy?
Gaby: 
Im internationalen Golf heißt es der Guide. Es ist ein erweitertes Zusammenspiel gegenüber dem normalen Caddy. Ich richte ihn aus, der Stand ist hierbei ganz wichtig und wo das Schlägerblatt hinzeigt, das kann er selber ja gar nicht mehr kontrollieren. 
Ivars: Erschwerend kommt natürlich hinzu: sie stellt den Schläger hin, ich greife und beim Zugreifen des Schlägers kann es passieren, dass ich ihn leicht verdrehe. Ich sehe das nicht, selbst wenn es nur ein Zentimeter ist. Und dann kann ein Schlag schon einmal völlig danebengehen. 

Was geht während dieses Vorgangs in Dir vor? Stellst Du Dir den Schlag und die Schlagkurve vorher vor? 
Am Anfang, auf unserem Platz stelle ich mir das schon vor. Ich kenne unseren Platz, da weiß ich genau, wo ich hinspielen möchte. Nur ist es schwierig das umzusetzen, weil ich so eine Flugkurve nie genau gesehen habe. Ich frage dann immer, wie der Ball geflogen ist, wie hoch und wie er gerollt ist. Ich frage dann auch immer, wie hoch die Bäume sind, um mir überhaupt eine Höhe vor Augen zu halten, zum Vergleich. 
Gaby: Das ist der Vorteil eines Spät-Erblindeteten. 
Er hat noch seine Vorstellungskraft. 
Ivars: Auf einem fremden Platz sieht das anders aus, da muss ich mehrmals spielen und den Platz abgehen, fragen wo Bunker sind und wie hoch oder niedrig diese sind. Also das ist dann wesentlich schwieriger für mich.

Wie kann ich mir die Interaktion mit anderen Leuten vorstellen? Gibt es da Berührungsängste? 
Am Anfang war es schwierig, weil die Leute auf dem Golfplatz ungläubig waren – so nach dem Motto: „Was soll denn jetzt der Quatsch?“ Nachdem die Leute dann mitbekommen haben, dass ich die Kugel ganz gut treffe, hat sich das ein bisschen gedreht. Später hieß es irgendwann „Lass uns mal spielen“! Dann hat Gaby mich da abgestellt und es wurde gefragt: „Wie, Deine Frau spielt nicht mit?“ Das war für viele Leute eine Überforderung, die wollten ihr Spiel spielen. Es gibt so ein, zwei Leute die von Anfang an gesagt haben, dass sie da gar kein Problem mit haben und die haben mit mir vom ersten Tag an gespielt. Für viele andere war es am Anfang und auch jetzt noch ein Problem, dass ich teilweise besser spielen kann als sie selbst, obwohl sie sehen können.