KUNST EVENTS

EIN FESTIVAL DES “NACH-HAUSE-KOMMENS

Interview: Ingo Kabutz

So empfindet es Johan Simons, Intendant der Ruhrtriennale 2015 bis 2017.  Die Ruhrtriennale ist für ihn auch politisch. Sein zentrales Motto: „Seid umschlungen“. Im Interview mit PURE LEBENSLUST erläutert Johan Simons, wie er mit seinem Team sein Festival-Konzept einer ‚Kultur für alle‘ umsetzen möchte und welche Bedeutung zum Beispiel die traditionell für das Ruhrgebiet wichtigen Themen „Arbeitslosigkeit und Integration anderer Kulturen“ haben.

Die Installation „The Good, the Bad and the Ugly“ für die Ruhrtriennale umfasst eine Reihe großformatiger Kunstwerke des Ateliers Van Lieshout und ist vor der Jahrhunderthalle Bochum zu sehen. Foto: Bernd Thissen/dpa

ACCATTONE BEWEGT UND BERÜHRT

Eindrücke von Johan Simons Inszenierung in der Zeche Lohberg | ERLEBT VON: REDAKTION PURE LEBENSLUST | Foto: Bernd Thissen/dpa

Können wir ohne Arbeit glücklich sein? Was bewegt uns, wenn nicht das Hamsterrad der Leistungsgesellschaft? Sind wir frei ohne Arbeit? Oder sind wir ohne Arbeit Gefangene sinnfreier Zeit? Ist Glück Genuss im Hier und Jetzt oder ein Leben nach Werten und Moral? Mit Accattone, der Theateradaption von Pasolinis gleichnamigen Filmmythos, stellt Johan Simons, Intendant der Ruhrtriennale, das Diktat der Arbeit in Frage. Er schuf ein Rätsel als sinnliche Breitseite aus grandioser Musik und bewegendem Schauspiel, verstärkt durch die Öde und den Schmutz einer verlassenen Industriebrache.

Jeroen Versteele, Dramatur der Ruhrtriennale, trat locker vor das im Foyer versammelte Publikum. Viele Menschen, an diesem Abend übrigens viele aus dem nahegelegenen Holland angereist, folgten der Einführung des jungen Dramaturgen. Mit diesem typisch sympathischen flämischen Akzent spricht er über Ideen und Gedanken zum italienischen Kultfilm „Accattone“ der 1960er Jahre bis hin zur Adaption des Filmstoffs für Dinslaken. Es geht um die Motive Pasolinis und die seines Protagonisten. Accattone (dt. „Bettler“, „Schmarotzer“) habe sich stolz zum „Subproletariat“ gezählt, „fand das System scheiße“ und hielt deshalb Arbeit ganz einfach für anstößig. Er habe gestohlen, herumgelungert, schließlich ums Überleben gekämpft und verloren. Zum Verständnis der Handlung betont Versteele, dass die Frauen auch in dieser Anti-Welt - vor den Toren der Metropole Roms  - alles zusammenhielten, wenn auch nur durch Flaschensammeln Geld verdienten– und leider auch unter dem Druck ihrer Männer ihren Körper verkaufen. Accattone, der Schurke, habe sich aber trotz seiner Zuhälterei in die reine, unverdorbene Stella „verknallt“…

Zur Arbeit an der Aufführung in Dinslaken sagt der Theatermann, dass die Bedingungen des Spielortes sowie die konkrete Zusammenarbeit zwischen Musikern und Schauspielern dort ihre Eigendynamik entwickelt haben. So sei das karge Dasein am Rande einer Großstadt durch den Dreck und die Öde - der nie zuvor kulturell genutzten Zechengebäude - für die Schauspieler stets sinnlich wahrnehmbar geworden. Das Ensemble selbst habe die riesige 210 mal 65 Meter messende Kohlenmischhalle als „überdachte Wüste“ bezeichnet. Auch ein Grund dafür, dass die Bühnenbildnerin, Muriel Gerstner, den Innenraum kaum verändert habe. Zum Schluss seiner Einführung erklärt Jeroen Versteele noch, das Accattone im Stück häufig zu Boden gehe. Bei Schlägereien, in Qualen, kämpfe er um seine Identität. Vom Staub verdreckt, versuche sich wenigstens wieder mit der Erde zu verbinden. Die wunderbaren Solisten, Choristen und Instrumentalisten des Collegium Vocale Gent samt ihres Dirigenten Philippe Herreweghe, platziert auf einem Podium seitlich der Spielfläche, haben die Schauspieler immer inspiriert, sogar ihr Spiel mitgestaltet und seien zur wahrhaft himmlischen Herausforderung geworden.

Die Aufführung selbst ist dann großes Kino. Die riesige Halle, wie eine monströse Röhre, an dessen offenem Ende grüne Natur im Dämmerlicht leuchtet. Längs der Hallenmitte nur ein Schienenstrang, auf dem sich – hüpfend, schlendernd, rennend - die Schauspieler in den Fokus oder ins Abseits bringen. Nur ein quergestellter Container direkt vor der steil ansteigenden Zuschauertribüne dient zum Auf- und Abtreten, ist eine schäbige Behausung. Ein Erdloch vor dem Orchesterpodest symbolisiert einen Fluss, den Abgrund, das allgegenwärtige Grab Accattones. Düster und dreckig ist die Welt der Vorstadt, von Soundscapes umhüllt und mit Downlights bestückt.

Das großartige Ensemble spielt über die ganze Tiefe der Halle, zeigt jedoch vorne vor der Tribüne dichte Präsenz. Sich an die Texte der Filmvorlage zu halten und doch zu konzentrieren, skizzieren und zu abstrahieren scheint Simons Interesse zu sein. Die Schauspieler drücken ihre Botschaften über ihre Sätze aus, erzählen teils nur die folgenden Geschehnisse, die sie durch stilisierte Aktionen zu unterstützen wissen. Gekonnt gelingen fließende Bewegungen – teils wie in Zeitlupe – und damit brutale Schläge als erotischer Tanz oder der Absturz des Helden zum ästhetischen Sprung in den Fluss, zum Fall in den Dreck, zum Sturz mit dem Motorrad. Simons choreographiert seinen Accattone, verzichtet damit bewusst auf Naturalismus durch Blut und Gewalt.

Den Leidensweg dieses Antihelden begleiten Bachs Kirchenkantate. Dirigent Philippe Herreweghe entwickelte für Dinslaken eine Art „ Accattone-Passion“ mit Arien, Chören und Instrumentalsätzen. Es sind diese Zwischenmusiken, die über der traurigen Szenerie stets tröstlich wirken. Der Chor singt „Wer hat dich so geschlagen …“ und gibt dem hier Verachteten die Würde zurück. Dringen doch die schönen Stimmen ein wie Farbe ins Löschpapier. Der Gesang der Solisten lässt verstehen, dass dieser Hoffnungslose vom Tode träumt, sich nach Erlösung sehnt. „Ich habe genug“, singt einzigartig Pieter Kooy, wenn Accattone, noch sein Motorrad schiebend, sein Ende antizipiert …  

Die Fragen zu einem Leben ohne Arbeit, zum Sinn ohne Arbeit beantwortet diese moderne Leidensgeschichte gleichwohl nicht. Doch sie stehen nun wie unsichtbar in den Staub dieser Industrieruine geschrieben und stellen sich umso deutlicher den Gedanken so mancher Zuschauer. Fragen, auf die es keine Antworten gibt …!